Klassenfahrten in der Tschechischen Republik - gestern und heute
Klassenfahrt, Wandertag, Studienreise, Kursfahrt – sie gehören an deutschen Schulen zum festen Bildungsprogramm. Denke ich an meine eigene Schulzeit in den Sechziger- und Siebzigerjahren zurück, so fallen mir mindestens vier einwöchige, teils sogar zweiwöchige Schulfahrten ein, sei es nach Sylt, ins Weserbergland oder nach Berlin. Unvergesslich bleibt meine erste Klassenfahrt an einen See im Lauenburgischen – im Alter von 10 Jahren. Und aus meiner Zeit als Gymnasiallehrer sind mir etliche Auslandsreisen mit Leistungskursen – nach Rom, London, in die USA – in Erinnerung. Oft habe ich mir die Frage gestellt, wie es um solche Unternehmungen eigentlich an Schulen anderer Länder Europas bestellt ist (oder war) – speziell was die ost- bzw. ostmitteleuropäischen Staaten betrifft, die bekanntermaßen hervorragende Bildungssysteme in die Zeit nach der Wende mitbrachten. Wie sieht es z.B. mit der Tschechischen Republik aus, jenem Land, in dem ich seit 2013 meinen festen Wohnsitz habe?
Schule in Tschechien – gestern und heute
Vergleicht man die Struktur des tschechischen Bildungssystems vor 1989 mit der heutigen Situation, so sind auf den ersten Blick keine gravierenden Unterschiede auszumachen. Auf eine neunjährige Grundschulzeit folgt ein vierjähriges Gymnasium (das sich vor der Wende „Mittelschule“ nannte), alternativ der Besuch der Berufs- oder Berufsfachschule. Hiervon abweichend besteht die Möglichkeit, schon nach der 5. Grundschulklasse auf ein achtjähriges Gymnasium zu wechseln bzw. nach der 7. Klasse eine sechsjährige Gymnasialzeit zu absolvieren. In beiden Fällen muss eine Eignungsprüfung abgelegt werden, wie es bis Mitte der Sechzigerjahre auch in Deutschland üblich war. Unter der äußerlich kaum veränderten Oberfläche der tschechischen Schullandschaft ist jedoch etliches in Bewegung geraten – nicht zuletzt was das Thema „Schulfahrt“ betrifft.
Wandertag und Klassenfahrt für die Jüngeren
Besonders am Schuljahresende finden sie statt: die Tagesausflüge für die Kleinen, also die ersten Jahrgänge der Grundschule (základní škola), des Schulhorts (školní družina) und des Kindergartens (mateřská škola). Sobald die Schulnoten feststehen, wird der Unterricht gern durch Wandertage „ersetzt“. Ersetzt? Wandertag ist Unterricht! Beliebte Ziele sind Burgen oder Burgruinen, Schlösser, auch Höhlen oder Schluchten, die es in Tschechien so zahlreich gibt, dass sie in der Regel per Tagesausflug erreichbar sind. Freizeitparks, die nach 1989 vermehrt entstanden, werden gern aufgesucht, auch ein gemeinsamer Zoo-Besuch steht nicht selten auf dem Programm. Je nach Vorliebe des Lehrers/Erziehers kann bei der Wahl des Ausflugsziels eher der Aspekt der Bildung im Vordergrund stehen (Besichtigung einer Stadt, eines Freilichtmuseums, einer Fabrik, Besuch bei der Feuerwehr, früher auch beim Militär...) – oder man möchte die Kleinen einfach ihren Spaß ausleben lassen: in diesem Fall wird gern die nächstgelegene Hüpfburg angesteuert.
Sportreisen
Die Tschechen sind eine sportliche und sportbegeisterte Nation. Ihre Idole sind, anders als in Deutschland, weniger die Fußballprofis als die Eishockey-Stars. Mächtig stolz sind alle Tschechen auf ihre weltbekannten Tennis-Größen. Auch Skilaufen steht als sportliche Aktivität für jedermann hoch im Kurs, und so verwundert es nicht, dass einwöchige Skifahrten in die Mittelgebirge (Böhmerwald im Westen, Erzgebirge, Riesen- und Isergebirge in Nordböhmen sowie Jeseníky/Altvatergebirge und Beskiden im Mährisch-Schlesien) zum festen Programm gehören. Mindestens einmal, eher zweimal nimmt jeder Schüler und jede Schülerin an einer solchen Skireise teil. Und seit der Wende führen solche sportlichen Exkursionen nicht selten auch ins Ausland, wenn es um Schwimmen, Radfahren oder Wandern geht. Bereits hier - und erst recht in den folgenden zwei Abschnitten - wird deutlich: Die tschechische „Klassenfahrten-Szene“ ist bunt und vielfältig, und sie war es auch vor der samtenen Revolution. Mindestens kommt sie der deutschen Klassenfahrten-Landschaft gleich. Vielleicht übertrifft sie diese sogar? „Raus aus der Klasse – rein in die Natur“ scheint in Tschechien, ganz in der Tradition der Jugendbewegung, das Motto zu sein:
Škola v přírodě / Schule in der Natur
Im Zuge der reformpädagogischen Bewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts etablierte sich auch in der Ersten Tschechoslowakischen Republik nach 1918 ein pädagogisches Modell, das aus Deutschland und Dänemark „importiert“ wurde und bis heute Bestand hat: die „Freiluftschule“ war ursprünglich eine Einrichtung der Heilpädagogik, um Kindern aus städtischen Ballungszentren mit starker Luftverschmutzung das Lernen in ländlicher Umgebung und sauberer Luft zu ermöglichen. Nicht zuletzt ging es hierbei um die Heilung der damals weit verbreiteten Tuberkulose. „Škola v přírodě“ setzte sich in der Tschechoslowakei - aufgrund knapper Finanzressourcen - erst allmählich, dann rasch und endgültig nach dem 2. Weltkrieg durch; man bezeichnet hiermit (abweichend von der ursprünglichen Bedeutung) den mehrtägigen Erholungsurlaub einer Schulklasse in einem Schullandheim – der immer auch Unterrichtsstunden an der „frischen Luft“ einschließt. Diese Erweiterung der Tagesausflüge (s.o.) ist obligatorischer Bestandteil des Schuljahres, etwa ab der 5. Klasse; sucht man im Internet nach „Škola v přírodě“, so findet man Angebote zahlreicher Schullandheime und Jugendherbergen, vor allem in den Mittelgebirgen West-, Nord- und Osttschechiens, in denen tschechische Schulklassen für einige Tage verweilen können.
Auslandskontakte
Fanden vor 1989 nur sehr vereinzelt Auslandsreisen statt, z.B. in die damalige DDR, so änderte sich dies nach der „samtenen Revolution“ grundlegend: Kontakte zu Schulen im Ausland wurden zunehmend obligatorisch. Finanzielle Hilfen gab und gibt es hier z.B. vom deutsch-tschechischen Zukunftsfonds. In meinem Wohnort Olomouc (Olmütz) gibt es 3 Gymnasien, die jeweils mehrere Partnerschulen im Ausland haben: eines dieser Gymnasien verfügt über Kontakte in die Schweiz, nach England, in die Niederlande und die USA, ein zweites orientiert sich mehr in Richtung Südosten, nach Griechenland, Kroatien und Bulgarien. Und das dritte Gymnasium unterhält nicht weniger als 4 Kontakte zu Partnerschulen in verschiedenen Regionen Frankreichs – an dieser Schule gibt es einen speziellen sprachlichen Zug namens „Francouzské Gymnázium“. Doch nicht nur Gymnasien unterhalten Kontakte ins Ausland – auch die Kleinsten haben ihre Partner. Ein schönes, geradezu herzerwärmendes Beispiel ist die Fichte-Grundschule der ostsächsischen Gemeinde Ebersbach-Neugersdorf, die seit 2001 eine Partnerschule im nur 3km entfernten Jiříkov hat – hier können die Kinder einander zu Fuß oder per Fahrrad besuchen. Und sie tun es häufig, die Kontakte sind sehr lebhaft: Jedes Jahr zum Nikolaustag und zu Weihnachten wird gemeinsam gefeiert!
J. Z. aus Olmütz (*1952) erzählt aus ihrer Schulzeit:
„Neun Jahre war ich auf der Grundschule, danach 3 Jahre auf dem Gymnasium, das 4-jährige gab es erst wenig später. Allgemeinbildende Mittelschule hieß es damals, Gymnasium durfte man nicht sagen! In den ersten Jahren der GS gab es nur Wandertage auf Burgen oder in die Natur. Fahrten ins Ausland gab es nicht, auch nicht in die DDR, in der Oberstufe sind wir für eine Woche auf Studienreise nach Prag gefahren. – Ob wir in der Kneipe waren? In der Disko?? Das ging überhaupt nicht, alles wurde gemeinsam unternommen und streng beaufsichtigt. Und Diskos kannten wir doch gar nicht! Skireisen gab es schon in der 7. Klasse, in die Jeseníky (Altvatergebirge). Abends? Auch da wurde alles gemeinschaftlich gemacht, Singen, Musizieren, Spiele. Und zum Schluss ein bunter Abend, wo alle etwas vorführen mussten – was ich persönlich gehasst habe...Insgesamt erinnere ich mich nicht sehr gut und nur ungern an die Schulfahrten in der kommunistischen Zeit.“
A. D. aus Přerov (zur Zeit der Wende 12 Jahre alt):
„Was hat sich nach 1989 verändert? Viel, natürlich, und es ging sehr schnell! Abgesehen davon, dass unsere Russischlehrerin plötzlich Englisch unterrichten musste, dass wir zu ihr "Frau Lehrerin" sagen mussten statt "Genossin", dass die Meldung "Klasse zum Unterricht bereit!" wegfiel, und dass es keine Übungen für den Fall eines Bombenangriffs mehr gab, betraf das eben auch die Schulfahrten: In der 4. Klasse fand noch der übliche Besuch im Zoo statt, in der 5. Klasse besichtigten wir die "Tatra"-Autofabrik in Kopřivnice samt der benachbarten Burg in Štramberk, in der 6. Klasse eine Tropfsteinhöhle. Und noch während des allgemeinen Umbruchs im Winter 1989/90 fand die obligatorische Skireise statt, für eine Woche ging es ins Altvatergebirge. Während es aber vor der samtenen Revolution keinerlei Auslandsfahrten gegeben hatte, auch nicht in die DDR, änderte sich das ziemlich bald, jetzt fanden Studienfahrten nach Italien und in die Niederlande statt. Leider habe ich selbst nicht an einer solchen Fahrt teilgenommen, dafür gab es in der 10. Klasse (1994) eine einwöchige Exkursion in die Natur, nach Oskava in den Bergen nördlich von Olmütz. Die Fahrt stand in der Tradition des Programms "Schule in der Natur". Dort in Oskava gibt es so ein Ensemble von Hütten, das häufig von Schulen im Rahmen dieses Programms angemietet wird. Und man muss sagen: Die Atmosphäre war schon sehr viel lockerer und entspannter als vor der Wende!"
J. M. (*1988) aus Krnov/Jägerndorf:
„2008 habe ich Abitur gemacht, nach 5-jähriger Grundschule und 8-jährigem Gymnasium. Wandertage in der Grundschule? Klar, das gehörte dazu. Burgen und Schlösser haben wir besichtigt, von denen wimmelt es ja bei uns. Wir hatten immer großen Spaß, von der strengen Atmosphäre vor 1989 war nicht mehr viel zu spüren. Auf dem Gymnasium gab es jedes Jahr eine 3-tägige Schulfahrt, in die Berge im Osten Tschechiens. Singen am Lagerfeuer war immer dabei. Einwöchige Skifahrten nach Karlov im Altvatergebirge gab es in der 7. und der 10. Klasse. In der 9. Klasse ging es eine Woche nach Prag, das war eine obligatorische Bildungsreise, jeder musste mehrere Referate halten. In der 12. Klasse waren wir auf Sportreise in Kroatien – Schwimmen, Radfahren, Wandern, Fußball, Tischtennis, Volleyball... – auch in London und Wien waren wir auf Kursfahrt. Die Lehrer waren eigentlich recht locker, abends durften wir auch in die Kneipe, sobald wir 18 waren. Und einen Schulaustausch mit Friedberg in Hessen gab es, der vom deutsch-tschechischen Zukunftsfonds finanziert wurde. Die Friedberger Schüler haben uns mehrfach besucht, und wir sie ebenfalls.“
V. P. aus Olmütz erzählt von ihrer 12-jährigen Tochter:
"Meine Tochter geht bei uns auf dem Dorf, nahe Olmütz, auf eine große Grundschule, in der Kinder aus den umliegenden Dörfern unterrichtet werden. Ob sie gern zur Schule geht? Na...es geht so. Wie viele Kinder ihres Alters ist sie der Meinung, dass die Schule sie eher von Wichtigerem abhält, von ihren Hobbys wie Malen, Musizieren oder Ähnlichem. Bei uns ist auch viel Auswendiglernen angesagt - die Erbschaft aus der früheren Zeit eben. Um so mehr freut sie sich auf die Ausflüge, die als Kontrastprogramm immer am Ende des Schuljahres anstehen. Die genießt sie richtig! "Schule in der Natur"? Daran hat sie bisher nicht teilhaben können. Ob diese Unterrichtsform stattfindet, ist sehr abhängig vom Direktor...unser Schulleiter befürwortet das nicht unbedingt. Die Eltern müssen selbst zahlen, für manche ist das schon ein Problem. Und besonders in kommunistischer Zeit standen diese Fahrten ja hoch im Kurs. Aber klar, Tagesausflüge finden statt: In der dritten Klasse waren sie in einem Skanzen (Freilichtmuseum) in Příkazy bei Olmütz, wo man Handwerkern bei historischen Handwerksberufen zusehen kann. In der 4. Klasse waren sie im "Bruno-Park" in Brünn, wo es riesige Trampoline, Rutschen und einen Teich mit Booten gibt. Auch der "Krokodilek-Park" in Olmütz ist bei den Klassen ein beliebtes Ziel. In der 5. Klasse haben sie die Macocha-Schlucht im Mährischen Karst besichtigt. Und im kommenden September, zu Beginn der 7. Klasse, werden sie eine Woche lang nach Oskava ins Altvatergebirge fahren, um den zahlreichen neuen Schülern die Eingliederung in den Schulbetrieb zu erleichtern. Und besonders freut sie sich auf die einwöchige Skifahrt in der 7. Klasse in die Jeseníky, die für alle tschechischen Schüler einfach ein Muss ist!"